
Bild: Symbolbild: Die angekündigten großen Einsparungen beim Bürgergeld dürften die nächste Wahlkampfblase sein, die platzt (Markus Winkler via unsplash.com)
Es war einer der Wahlkampfschlager der Union: Vier Millionen Menschen kassierten angeblich Bürgergeld, obwohl sie arbeiten könnten. Eine sechsstellige Zahl unter ihnen würde hartnäckig jedes Vermittlungsangebot der Jobcenter ablehnen. Mit dieser Geschichte zogen die Unionsparteien durchs Land, und sie hatte alles, was ein Wahlkampfhit braucht: Sie bediente althergebrachte Vorurteile und schuf ein klares Feindbild – das vom faulen, arbeitsscheuen Drückeberger, der es sich auf Kosten der fleißigen und ehrlichen Steuerzahler bequem macht.
Die Union konnte sich so als Anwalt der angeblich von Bürgergeldbeziehenden ausgebeuteten deutschen Mittelschicht in Szene setzen.[1] Die Botschaft war: Wählt uns, und wir werden diesem faulen Pack schon Beine machen – durch Kürzung der Leistungen im Zweifel bis auf null, wie insbesondere Oberwahlkämpfer Carsten Linnemann, Generalsekretär der CDU, nicht müde wurde zu betonen. Zweistellige Milliardenbeträge könnten so im überstrapazierten Haushalt eingespart werden, versprach Kanzlerkandidat Friedrich Merz noch im Dezember 2024.[2]Jetzt, da sich die Rauchschwaden des Wahlkampfes verzogen haben und die Sicht wieder klarer wird, steht die Union allerdings ziemlich blank da. Die angekündigten großen Einsparungen beim Bürgergeld dürften die nächste Wahlkampfblase sein, die platzt. Als Kanzler mag Merz seine forsche Ankündigung eines zweistelligen Milliardeneinsparbetrags schon gar nicht mehr wiederholen und nennt vorsichtshalber keine Zielgröße mehr.[3]
Die Einsparillusion
Finanzminister Lars Klingbeil und Arbeitsministerin Bärbel Bas gehen für 2026 nur noch von einer möglichen Einsparung von 1,5 Mrd. beim Bürgergeld aus, was von einem zweistelligen Milliardenbetrag ziemlich weit entfernt ist. Arbeitsagentur-Chefin Andrea Nahles setzt selbst dahinter ein großes Fragezeichen – vermutlich zu Recht. Die Koalition täte gut daran, endlich einige Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen. Ihre Falschinformationen zum Bürgergeld, die sie im Wahlkampf so emsig streute, werden sie nun, da es an die Umsetzung geht, ohnehin einholen. Die Wirklichkeit sieht nämlich wie folgt aus: Es geht nicht um vier Millionen erwerbsfähige Bürgergeldbeziehende, die in Arbeit gebracht werden könnten, sondern um weniger als die Hälfte – und auch dies nur bei sehr theoretischer Betrachtung. Denn als erwerbsfähig werden in der Statistik der Bundesagentur sämtliche Leistungsbeziehende ab dem 16. Lebensjahr erfasst – ganz unabhängig davon, ob sie dem Arbeitsmarkt tatsächlich zur Verfügung stehen oder nicht. Darunter sind naturgemäß hunderttausende Schüler, Studierende und Azubis sowie Menschen, die wegen der Betreuung eines Kleinkindes oder der Pflege eines Angehörigen für eine Vermittlung gar nicht infrage kommen – zusammen mehr als 700 000. Hinzu kommen 480 000 Personen, die sich in Maßnahmen der Bundesagentur befinden, über 400 000, die bereits mehr als 15 Wochenstunden arbeiten und lediglich aufstocken müssen, sowie 240 000 erkrankte Menschen. So bleiben von den vier Millionen, mit denen Wahlkampf gemacht wurde, lediglich 1,8 Millionen als arbeitslos registrierte Bürgergeldbeziehende übrig. Gezählt werden dabei auch Personen, die in Teilzeit unter 15 Wochenstunden beschäftigt sind.
Diese 1,8 Millionen sind also die große Hoffnung der Koalition, wenn es um die versprochenen Einsparungen geht – sei es über verschärfte Leistungskürzungen oder über die Vermittlung in eine auskömmliche Erwerbsarbeit. Was nennenswerte Einsparungen über härtere Sanktionsregeln anbelangt, hat Andrea Nahles als zuständige Behördenchefin schon abgewunken. Diese brächten vielleicht 100 Mio. ein, mehr nicht.[4] Und sogar das dürfte bereits hoch gegriffen sein. Im Mai 2025 waren gerade einmal 33 000 Leistungsbeziehende mit einer Sanktion belegt. Das sind nicht einmal ein Prozent aller Erwerbsfähigen im Bürgergeldbezug. Linnemann hatte mit seiner sechsstelligen Zahl von Arbeitsverweigerern schlicht Desinformation betrieben.
Auch das Hilfsargument, wonach eine große Zahl von Pflichtverletzungen gar nicht sanktioniert würde, trägt nicht: Die Angestellten in den Jobcentern haben nach Gesetz und Dienstanweisung kaum einen Ermessensspielraum. Wenn bei einer Pflichtverletzung keine plausible Entschuldigung glaubhaft gemacht werden kann und auch kein außergewöhnlicher Härtefall vorliegt, muss sanktioniert werden – und wird sanktioniert.
Beliebig kürzen lassen sich die Leistungen bei Pflichtverletzungen nicht. Das Bundesverfassungsgericht hat Politik und Verwaltung mit Blick auf Artikel 1 Grundgesetz klare Grenzen gesetzt: Im Regelfall können die Leistungen für den Lebensunterhalt nur um maximal dreißig Prozent reduziert werden, und auch das nicht unendlich lange.[5] Zwar besteht bei Personen, die sich einer Arbeitsvermittlung hartnäckig verweigern, die Möglichkeit, den kompletten Regelsatz einzubehalten, doch liegen die verfassungsrechtlichen Hürden dafür hoch. Ohnehin dürften solche Fälle die große Ausnahme bleiben. Die totale Streichung jeglicher Unterstützung inklusive Wohnkosten, wie sie CDU-Generalsekretär Linnemann für solche Fälle im letzten Jahr noch propagierte, hätte verfassungsrechtlich keinerlei Chance und kann getrost unter Wahlkampfklamauk beiseitegelegt werden.
Schärfere Sanktionen: Mehr Klagen
Die Union fuhr im Wahlkampf eine extrem harte Kampagne gegen Bürgergeldbeziehende und muss nun irgendetwas liefern. Vor diesem Hintergrund mag der Koalition eine Verschärfung der Sanktionsmöglichkeiten für die Jobcenter politisch opportun erscheinen. Fach- oder finanzpolitisch begründen lässt sie sich jedoch nicht. Sie dürfte eher als politische Luftnummer enden – jedoch mit einem absehbaren Nebeneffekt, den die Koalition besser sorgfältig abwägen sollte: Mehr und schärfere Sanktionen haben fast zwangsläufig auch ein Mehr an Widersprüchen und Klagen vor Gericht zur Folge. Allein zwischen Juni 2024 und Mai 2025 sind 434 000 Widersprüche bei den Grundsicherungsstellen gegen ihre Bescheide eingegangen. 55 000 Klagen waren vor Gericht anhängig. Im Ergebnis wurde jedem dritten Widerspruch vollständig oder zumindest teilweise stattgegeben, und von den Klagen, die sich nicht im Zeitverlauf „von selbst“ erledigten, waren sogar zwei Drittel erfolgreich.[6] Solche Quoten sagen sehr viel über die Qualität der Bescheide und der gesetzlichen Grundlage aus. Mit beidem kann es nicht weit her sein. Will die Koalition wirklich Gesetz und Verwaltungspraxis durch undurchdachte Reformen noch widerspruchs- und klageanfälliger machen, als sie es ganz offensichtlich ohnehin bereits sind?
Realitäten ausgeblendet
Nicht nur was die Sanktionen anbelangt, sondern auch zu ihren Einsparversprechen durch bessere und mehr Vermittlung in Arbeit wäre die Koalition gut beraten, sich ehrlich zu machen. In der Bundesagentur gilt die Faustregel, dass 100 000 Vermittlungen mit einem Einspareffekt von rund 1,5 Mrd. Euro einhergehen. Für die von der SPD für 2027 angepeilten 4,5 Mrd. Euro Einsparungen bräuchte es danach 300 000 Vermittlungen – im Saldo.
Ganz unabhängig davon, dass der Arbeitsmarkt das in der Rezession nicht hergibt, gilt es, einige weitere Hemmnisse anzuerkennen. Die Vermittlungsquote der Jobcenter lag 2022 bei denkbar schlechten 5,9 Prozent. Konkret bedeutet das: Nur sechs von einhundert Personen, die aus dem Bürgergeldbezug heraus ihren Weg in eine ungeförderte Stelle auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt fanden, hatten dies einer direkten Vermittlung durch die Jobcenter zu verdanken. Wenn jemand einen Job fand, dann in der Regel aus eigener Initiative. Dies darf keinesfalls zum Anlass für ein Jobcenter-Bashing genommen werden, zumal die Kriterien, wann in der Statistik von einer Vermittlung gesprochen werden darf, sehr eng gefasst sind.[7] Wir können getrost davon ausgehen, dass die Nahles-Behörde nichts lieber täte, als hunderttausende Bürgergeldbeziehende auf dem ersten Arbeitsmarkt unterzubringen, wenn es denn so einfach wäre, wie Carsten Linnemann, Jens Spahn und andere suggerieren.
Fakt ist: Über 60 Prozent der Arbeitslosen im Bürgergeld waren Ende letzten Jahres Langzeitbezieher, sprich: Sie erhielten bereits zwei Jahre und länger Bürgergeld. Für über 40 Prozent gilt dies sogar vier Jahre und länger.[8] Das hat Gründe. Einer ist sicherlich auf einem immer härter werdenden Arbeitsmarkt zu suchen und in der Tatsache, dass langzeitarbeitslose Bürgergeldbeziehende bei Arbeitgebern trotz aller Rufe nach Arbeitskräften nicht gerade hoch im Kurs stehen.
Ein weiterer, in vielen Fällen ausschlaggebender Grund dürfte darin liegen, dass knapp zwei Drittel der Arbeitslosen im Bürgergeld über keine abgeschlossene Berufsausbildung verfügen. Auch das ist hinlänglich bekannt. Was darüber hinaus jedoch so gut wie nie in den Blick genommen wird, ist der Umstand, dass jede Person, die Bürgergeld bezieht, als erwerbs- und damit auch vermittlungsfähig gilt, solange sie noch drei Stunden täglich eine Arbeit verrichten kann – und dies nicht einmal am Stück. Es gibt bezeichnenderweise keinerlei offizielle Statistik über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen von Grundsicherungsbeziehenden – dabei haben wir es hier mit einem zentralen Vermittlungshemmnis zu tun. Denn nicht nur die tägliche Arbeitszeit ist in solchen Fällen beschränkt, sondern häufig treten auch Krankheitssymptome, insbesondere bei chronischen psychischen Erkrankungen, in Schüben auf und führen zu häufigeren Arbeitsunfähigkeiten. All das verringert die Chancen auf dem Arbeitsmarkt eklatant.
In einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung von 2019[9] gingen die Autoren, trotz methodisch außerordentlich vorsichtiger Herangehensweise, bei 130 000 bis 240 000 der damals 4,2 Millionen erwerbsfähigen Beziehenden von Hartz IV davon aus, dass sie nicht einmal mehr für eine Beschäftigungsmaßnahme der Bundesagentur für besonders arbeitsmarktferne Langzeitarbeitslose infrage kämen. Aus der Erfahrung sozialer Arbeit kann vermutet werden, dass die Zahl derer, die in der Praxis nicht mehr vermittelbar und damit faktisch auch nicht mehr erwerbsfähig sind, sogar noch deutlich höher liegt. Häufig kommen so gravierende soziale oder Verhaltensprobleme hinzu, dass die Arbeitsfähigkeit auch dadurch weiter beeinträchtigt wird. Methodisch gesicherte Erkenntnisse dazu wären dringend notwendig.
Ähnlich substanzlos wie der Ruf nach härteren Sanktionen kommt der Vorschlag des bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder daher, den Bürgergeldbezug für ukrainische Flüchtlinge zu streichen. Für künftige ukrainische Flüchtlinge war dies ohnehin im Koalitionsvertrag von Union und SPD vereinbart. Neu an Söders Forderung ist, dass er auch die rund 700 000 Ukrainerinnen und Ukrainer, die bereits im Bürgergeldbezug sind, in das Asylbewerberleistungsgesetz überführen will. Was er dabei übersieht: Fast alle von ihnen sind bereits 2022 zu uns gekommen und hätten nach drei Jahren Aufenthalt ohnehin Anspruch auf Leistungen in der Höhe des Bürgergeldes. Die Streichung brächte haushalterisch also nichts, lediglich sehr viel Verwaltung und einen echten Rückschritt in Sachen Arbeitsmarktintegration, da die Jobcenter dann nicht mehr zuständig wären. Für die Integration wäre dies fatal.
Was wir nun brauchen
Es ist unwürdig, Menschen mit Sanktionen in einem Hamsterrad zu halten, aus dem sie nicht entkommen können. Es ist gefährlich, Sündenböcke zu schaffen, und politisch unklug, sich den Realitäten nicht zu stellen. Notwendig wäre stattdessen dreierlei:
Erstens: Hinsichtlich der ukrainischen Arbeitslosen müssen endlich staatliche Integrationshürden abgebaut werden, von der nur schleppenden Anerkennung von Berufsabschlüssen bis hin zu fehlenden Kinderbetreuungseinrichtungen. Das Bürgergeld zu streichen wäre dagegen kontraproduktiv.
Zweitens: Es gilt, einen ehrlichen Umgang mit der faktischen Erwerbsunfähigkeit zu finden. Diese liegt vor, wenn jemandem zwar nach dem Regelwerk der Rentenversicherung noch keine Rente wegen voller Erwerbsminderung zusteht, aber die Chance einer Arbeitsaufnahme nach aller Erfahrung praktisch nicht gegeben ist.
Drittens: Es muss ein sozialer Arbeitsmarkt aufgebaut werden, der passgenau denjenigen eine auskömmliche Arbeit gibt, die zwar noch erwerbsfähig sind, auf dem ersten Arbeitsmarkt aber keine realistische Chance mehr haben. Das spart kein Geld, sondern kostet welches. Aber in einer Arbeitsgesellschaft, die zugleich Sozialstaat sein will, sind wir das den Menschen schuldig.
So könnten die realen Probleme angegangen werden. Stattdessen sich und anderen weiterhin vorzugaukeln, man könne über Sanktionen und Vermittlung enorme Einsparungen realisieren, ist schlicht unseriös.
[1] Vgl. ausführlich Ulrich Schneider, Unsere soziale Hängematte – Mythen und Fakten zum Bürgergeld, rosalux.de, Dezember 2024.
[2] Vgl. Merz will Entlastungen mit Einsparungen beim Bürgergeld finanzieren, handelsblatt.com, 17.12.2024.
[3] Friedrich Merz im ARD-Sommerinterview, ardmediathek.de, 13.7.2025.
[4] Nahles dämpft Erwartungen an Bürgergeldeinsparungen, evangelisch.de, 2.7.2025.
[5] Vgl. Urteil vom 5.11.2019, 1 BvL 7/16, bundesverfassungsgericht.de.
[6] Vgl. Widersprüche und Klagen SGB II – Deutschland, West/Ost, Länder und Jobcenter, statistik.arbeitsagentur.de, Januar 2025.
[7] Jan Klauth: Nur sechs Prozent vermittelte Jobs? Das steckt hinter der miesen Arbeitsagentur-Quote, in: „Die Welt“, 6.9.2023.
[8] Vgl. Verweildauern im SGB II – Deutschland, West/Ost, Länder und Kreise (Monatszahlen), statistik.arbeitsagentur.de, Dezember 2024.
[9] Mark Trappmann, Stefanie Unger, Philipp Ramos Lobato, Leistungsberechtigte mit gesundheitlichen Einschränkungen: Nicht jeder ist erwerbsfähig, iab-forum.de, 18.9.2019.